So bunt ist die Behinderungsverarbeitung
Wenn wir eine Behinderung „erwerben“, dann kaufen wir uns eines gleich mit ein: Wir müssen sie nebenbei auch noch verarbeiten. Diskriminierung, verhinderte Dazugehörigkeit, etwas nicht erlebt zu haben, das kann uns aber auch bei angeborener Behinderung Bewältigungsprozesse abverlangen. Beratende, ich nehme mich da nicht aus, orientierten sich lange an den alten Modellen zur Behinderungsverarbeitung, die heute in der Kritik stehen. Die einen fühlen sich davon unter Druck gesetzt, weil ihnen ein Bewältigen nach Plan übergeholfen wird. Andere finden darin Hoffnung und Orientierung. Deshalb sind Modelle nie statisch und wir Menschen immer individuell zu betrachten. Die Blinde in mir ist den älteren Modellen durchaus verbunden, die chronisch Erkrankte in mir fühlt sich von den neuen Modellen eher angesprochen. Geht beides oder brauchen wir vielleicht gar keine Modelle? Ein spannender Diskurs in mir, den ich mir auch unter Beratenden wünsche. Da ich aus der Perspektive der Peer Beraterin (Betroffene beraten Betroffene) schreibe, in deren Rolle ich beruflich und ehrenamtlich aktiv war, fließen meine sozialpädagogischen Erkenntnisse und mein Erleben als behinderte Frau gleichermaßen in meine Betrachtungen ein.
Innerer Kampf mit den Phasen

Ich wurde in einer Zeit sozialisiert, in der die Erwartung nicht behinderter Menschen Betroffenen gegenüber vorherrschte, man müsse über seiner Behinderung stehen. Das gerade konnte ich beim besten Willen nicht, wenn ich auch sah, dass es geübtere blinde Menschen gab als mich, die alten Hasen, die scheinbar nicht „mehr“ in diesen inneren Kämpfen steckten.
Blindenstock, Blindenschrift, überhaupt das Wort „blind“, ich konnte ja nicht mal diese Begriffe in meinem Zusammenhang ertragen, geschweige denn, diese Hilfsmittel in mein Selbstbild integrieren. Gleichzeitig entstand neben meinem eigenen Wundschmerz eine Überkompensation in mir, da das sozial erwünschte Bild eines behinderten Menschen nicht dem des Hadernden entsprach, der ablehnte, was man sich „Gutes“ für ihn ausgedacht hatte. Wie inspirierend hingegen doch behinderte Menschen wahrgenommen wurden, die immer am Ende des Tunnels Licht sahen und davon anderen möglichst viel abgaben.
Als ich dann mit Modellen zur Behinderungsverarbeitung konfrontiert wurde, eröffnete sich mir eine entlastende Sichtweise: Es gab nicht nur die beiden Optionen „akzeptieren“ oder „nicht akzeptieren“, es gab einen Prozess, ganz viele Gefühle und Schritte und die waren alle legitim. Da waren: der Schock nach der Diagnose, die Verleugnung dieser Krankheit/Behinderung, das Aufbrechen der Gefühle, die Trauer um den Verlust, die Schätze, die wir mitnehmen, die neuen Türen, die sich öffnen, das letztlich wieder zufriedene Leben.
Modelle zur Behinderungsverarbeitung haben allerdings ihre Schwächen, da sie wie eine Gebrauchsanweisung wirken können, nach der ein Verlust „abgearbeitet“ werden muss. Zum Glück habe ich das nicht so empfunden, da ich diese Phasenmodelle erst am Ende meiner Erblindung kennenlernte und mich in der Rückschau auf erleichternde Weise darin wiedererkannte. Auch wurden diese Modelle längst dahingehend geöffnet und erweitert, dass der Verlauf nicht linear zu sehen ist, Phasen übersprungen werden, Gefühle auch parallel laufen können, man bei zusätzlichen Verlusterfahrungen zurückfallen und es Wellenbewegungen geben kann, die mit der Zeit abflachen.
Weil diese Erkenntnis für mich wichtig war, wollte ich sie auch an andere erblindende Menschen weitergeben, immer mit sensiblem Blick auf die Individualität jedes einzelnen. Einige unter uns erleben starre Modelle als Gewalt an der eigenen Person, nämlich dann, wenn sie uns Verarbeitung nach Schema F abverlangen. Ich habe aber andererseits auch erlebt, Gewalt und Druck gerade mit den Wissen um die Verarbeitungsstadien vermeiden zu können, weil wir z.B. niemandem einen Blindenstock aufnötigen oder eine Selbsthilfegruppe nahebringen können, der/die noch mitten im Schock oder in der Abwehr steckt. Orientiert habe ich mich dabei an der Trauerspirale von Erika Schuchardt und den Publikationen von Eva-Maria Glofke- Schulz, da hier die Dynamik der Phasen und eine akzeptablere Definition des Begriffs „Annahme“ im Verarbeitungsprozess berücksichtigt werden.
Was die einen an den Phasenmodellen unter Druck setzt, wirkt auf die anderen ermutigend: die Idee, dass wir nach dem Durchleben der Phasen schließlich bei einem erfüllten Leben mit Behinderung ankommen, mit der Erlaubnis, dass Phasen auch immer in Bewegung und unabgeschlossen sein dürfen. Ich beobachtete an Menschen, die vor mir erblindet waren, dass sie tatsächlich ruhiger und zufriedener lebten und nicht mehr so oft mit der Behinderung auf Kriegsfuß standen. Die neueren Modelle hingegen sprechen eher davon, dass das Wechselbad der Gefühle in Facetten erhalten bleibt. Das kann entlasten, weil wir nicht über der Behinderung stehen müssen, das kann aber auch Angst machen, denn einigen von uns würde es die Aussicht rauben, dass wir unsere Behinderung im Laufe der Verarbeitung als weniger schlimm erleben werden.
Unterschiedliche Phasenmodelle beschreiben auch eine unterschiedliche Anzahl von Phasen. Die Nummerierung ist hier aber gerade nicht entscheidend, denn sie macht es statisch. Ich persönlich kann mit der Metapher „Hinter den sieben Bergen“ gut arbeiten und merke mir deshalb die sieben Phasen besonders gut, die ich in diesem Beitrag beschrieb.
Neue Farben und Facetten

Auch wenn ich mich inzwischen zunehmend zeitgemäßeren Traueransätzen öffne, wie z.B. dem Trauerkaleidoskop von Chris Paul, geht es hier überwiegend um Trauer bei Tod, nicht um Trauer innerhalb der Behinderungsverarbeitung. Verlieren wir jedoch etwas Geliebtes, etwas uns Wichtiges, wie z.B. das Augenlicht, setzt ebenfalls ein Trauerprozess ein, der bei jedem von uns individuell gefärbt ist.
Beim Trauerkaleidoskop sind alle Facetten des Trauerweges stets gemeinsam vorhanden, aber sie sind nicht alle gleich sichtbar. Wie bei einem Kaleidoskop aus Kindertagen, mischen sich die verschiedenen Farben beweglich zu immer neuen, sich gegenseitig behindernden oder unterstützenden Strukturen. Einzelne Teile können andere verdecken, ohne dass eine der Farben je aus dem Kaleidoskop verschwindet.
Bei ihrem ganzheitlichen Modell betrachtet Chris Paul Trauern als Prozess, der verschiedene Bereiche unseres Lebens berührt. Die Lebensbereiche, die von einem Verlust beeinflusst werden, nennt sie „Facetten des Trauerns“. Dabei ordnet sie jeder der 6 Facetten (ÜBERLEBEN, WIRKLICHKEIT, GEFÜHLE, SICH ANPASSEN, VERBUNDEN BLEIBEN, EINORDNEN) eine Farbe zu. Knallrosa ist z.B. die Farbe der Gefühle. Das Verbundenbleiben ist strahlend gelb, da es Hoffnung ausstrahlt. Generell geht es in diesem Modell nicht um das Loslassen von Verlorenem, was viele von uns überfordert, sondern um das Integrieren des Verlorenen. Im Falle der Erblindung würde das bedeuten, ich darf die Sehende in mir mitnehmen und ihr verbunden bleiben.
Da die Arbeit von Chris Paul sehr visuell orientiert ist, können gerade Menschen, die ihr Sehvermögen verlieren, das Modell mit den Farben der Trauer möglicherweise nicht so gut auf sich anwenden. Deshalb muss man hier genau hinspüren, ob diese Idee hilfreich ist, oder den Verlustschmerz eher verstärkt. Ich persönlich bin auch als erblindete Frau Farben noch sehr verbunden und möchte zukünftig „schauen“, wie ich das Trauerkaleidoskop auch auf die Verarbeitung von Behinderung und chronischer Krankheit anwenden kann.
Pendeln als Prozess

Neben den Phasen und den Farben gibt es noch einen weiteren Ansatz, den ich gern besprechen möchte. Er beschreibt eine Pendelbewegung. Bei trauernden Kindern sprechen wir oft vom so genannten „Pfützenspringen“. Sie können sehr traurig über einen Verlust sein und sich in einem anderen Moment mit einem fröhlichen Spiel ablenken, also von der einen in die andere Pfütze springen. Es bleibt dem Trauerprozess überlassen, wann ein Kind in welche Pfütze springt, wie oft und wie lange es in welcher verharrt und wie welche Pfütze genau aussieht.
Bei erwachsenen Menschen wird Trauern komplexer, aber auch wir kennen diese Gefühlsschwankungen, das Pendeln zwischen zwei vollkommen gegensätzlichen Stimmungslagen. Deshalb wirkt die Auseinandersetzung mit dem Pendelmodell für viele von uns befreiend, weil das eigene Fühlen und Agieren erklärbar wird.
Die Wissenschaftler*innen Stroebe und Schut haben das Duale Prozess-Modell (DPM) entwickelt, das sowohl die Konfrontation als auch das Unterdrücken/ Verdrängen als wichtig erachtet. Als Trauerfall wird hier ein belastendes Lebensereignis definiert, bzw. eine Stress- und Krisensituation (stressful-life-event). Ich versuche das Modell wieder auf das Thema Behinderungsverarbeitung zu übersetzen: Wir verlieren durch den Verlust Ressourcen, die wir zur Lebensbewältigung benötigen. Die Herausforderungen, die nun durch den Einschnitt entstehen, verursachen uns Stress.
Es gibt dabei zwei Sorten von Stressfaktoren: einerseits ist der Verlust selbst stressig für uns, andererseits ist es stressig, im Alltag funktionieren und sich an die veränderten Lebensumstände anpassen zu müssen. So vollzieht sich Trauer bei uns einerseits verlustorientiert, andererseits wiederherstellungsorientiert. Laut des Modells können verlustorientierte und wiederherstellungsorientierte Bewältigung nicht zugleich geschehen. So wechseln wir von einem Zustand zum anderen, wir entscheiden selbstbestimmt, was für uns gerade heilsam oder notwendig ist.
Behinderungsverarbeitung wäre demnach ein dualer Prozess, in dem wir zwischen zwei Bereichen pendeln. Am eigenen Beispiel möchte ich das so erklären: ich bin oft ziemlich glücklich darüber, neue Aufgaben gefunden zu haben, als Buchautorin, Fernsehkolumnistin und Inklusionsbotschafterin. Das ist die Wiederherstellung. Trotz des Angekommenseins in meinen Behinderungen, kosten sie mich oft so viel Kraft, dass mir nicht einmal eine kleine Urlaubsreise mit meiner Familie möglich ist, weil ich mit starken chronischen Schmerzen lebe. Dann spüre ich ganz stark den Verlust von Gesundheit. Ich wechsle also dem Modell nach zwischen der Kompensation des Verlusts und dem Traurigsein über den Verlust.
Individuell statt nach Modell?

Die Frage, ob sich neue und alte Modelle zur Behinderungsverarbeitung kombinieren lassen und ob Modelle überhaupt nötig sind, möchte ich so beantworten:
Wir verarbeiten Verluste immer individuell und nie nach Modell. Modelle können uns jedoch dabei helfen, unser Verhalten und Erleben zu erklären. So wähle ich selbst bei der Verarbeitung meiner unterschiedlichen Beeinträchtigungen zwischen verschiedenen Ansätzen und stricke mir den passenden Lebenspullover. Momentan fühlt es sich für mich zu brutal an, ohne Übergangswaben von den alten zu den neuen Ansätzen zu springen. Hier dürfen und müssen wir selbst entscheiden. Ich denke, was sich für uns stimmig anfühlt, können wir innerlich verweben, egal aus welchen Ansätzen wir unsere persönlichen Erkenntnisse speisen. Modelle können dabei höchstens sanfte Orientierungshilfen sein, die von uns nicht als Gewalt an der eigenen Seele erlebt werden dürfen. Auch als Beratende müssen wir uns das bewusst machen, wenn wir Klient*innen in statische Modelle pressen wollen und dabei die Menschlichkeit aus dem Gespür verlieren.
Durch Qualifikation und eigene Betroffenheit kann es uns gelingen, Mitbetroffene einfühlsam und authentisch zu beraten oder zu begleiten, egal ob im Peer Counseling, durch therapeutische Unterstützung oder in einem Coaching. Damit das gelingen kann, ist es notwendig, dass wir zu den Facetten der Behinderungsverarbeitung im Austausch bleiben und neue Blickwinkel eröffnen. Im Dezember 2021 durfte ich dazu einen sowohl menschlich als auch fachlich anregenden Impulsvortrag der „Sehheldin“ Anne Niesen miterleben, die selbst mit Sehverlust lebt. Hier wurde sehr klar, warum es so wichtig ist, eigene, individuelle Pfade zu pflastern und Bewältigung nach Plan sowohl als Betroffene, als auch als Beratende, kritisch zu hinterfragen. Gern möchte ich an dieser Stelle auf Annes Blogbeiträge, ihr Sehheldinnen-Manifest und ihre Angebote hinweisen.
Ausführliche Bildbeschreibungen und weitere Tiermotive finden Interessierte unter: https://galeriegefluester.wordpress.com/tierisch/