Gezeichnet vom Lieben

Jennifer Sonntag ist elegant in schwarz gekleidet und hat sich bei Dirk Rotzsch eingehakt, der ein Storch Heinar T-Shirt und ein schwarzes Cappi trägt. Jennifer hält einen Blindenstock in der anderen Hand
Jennifer Sonntag und Dirk Rotzsch

Wir alle sind Kunst, gezeichnet vom Leben. Ich jedoch war schon immer auf die sinnlichste Weise vom Lieben gezeichnet und ich habe die Liebe gezeichnet. Nicht selten verwirrte ich meine sehenden Zeitgenossen mit meinen Wortbildern oder Bildworten, die man einer blinden Frau so fassettenreich nicht zutraute, auch in ihrer Absonderlichkeit oder Erotik.

Am Anfang war das Schreiben

Prägend war für mich stets die Entwicklung an meinem Kreativ- und Sinnespartner Dirk Rotzsch, gerade weil wir mit anderen Augen sahen, er mit den äußeren, ich mit den inneren. Im Rahmen unserer erotischen Lesereihe zu meiner Audio-Anthologie „Zigaretten danach“ und später auch durch die Veröffentlichung unseres erotischen Textbandes „Liebe mit Laufmaschen“, wurden wir häufig mit Fragen zu unserem „blinden Verstehen“ konfrontiert, welches sich nicht nur in unserer literarischen Zusammenarbeit widerspiegelte, sondern ganz wörtlich gemeint war: eine blinde Autorin und ihr sehender Co-Autor, kein Thema? Manchmal doch, nämlich dann, wenn es zu einem wertvollen Austausch führte, den inneren Blick erweiterte, neue kreative Räume öffnete. So fragte sich die Leser- und Hörerschaft, wie es mir gelänge, in Bildern zu schreiben, und diese in einem nächsten Schritt sogar zu zeichnen, wenn ich doch das, was ich ausschmückte, gar nicht vor Augen haben konnte. Wo blinde Flecken waren, entstand jedoch die entscheidende Fläche für meine Fantasie. Kein freier Millimeter blieb unbespielt. Erst entstanden die Bilder, dann die Worte, oder war es umgekehrt? Vermutlich formten sich meist Symbiosen aus Wort und Bild, bizarr verwobene Fantasiekonstrukte aus beidem.

Vom Foto zur Zeichnung

Ich ließ die Bilder nie los, die Sprache der Sehenden, habe ich sie als Späterblindete doch selbst viele Jahre gesprochen. Als Fotomodell kommunizierte ich sehr intensiv mit FotografInnen, um mir der Bedeutung der Bildhaftigkeit, auch in erotischen Zusammenhängen, bewusst zu bleiben. Ich war stets interessiert an erotischen Foto- und Gemäldegalerien, obwohl ich sie nicht mehr sah. Wollte ich den Sinn zelebrieren, der mir nun fehlte? Das bedeutete immer auch Schmerz. Vielleicht wollte ich in meinen leidenschaftlichsten Jahren – und jede Lebensdekade kann auf ihre Weise die leidenschaftlichste sein – das erotische Sprühen, was sich auch für mich immer durch optische Reize speist, mit meiner blinden Sinnlichkeit mischen. Später suchte ich neue Wege, weg von der Fotografie, hin zur Zeichnung. Ich entwickelte Möglichkeiten, einen direkteren Einfluss auf das Bild, das aus meinem Kopf heraus sichtbar wurde, auszuüben. Auch wenn ich mich nach meiner Erblindung lange Zeit nicht mehr mit Zeichenutensilien konfrontierte, da sie mich zu schmerzlich an Verlorenes erinnerten, drängte die innere Künstlerin zunehmend stärker, es wieder zu versuchen. Ich wünschte mir den direkten Kontakt zum Papier. Ich wollte Perspektiven, Konturen und Schattierungen erzeugen, auch wenn ich mir darüber im Klaren war, dass meine Ergebnisse nicht mit denen Sehender zu vergleichen sein würden. Diesen Anspruch hegte ich auch nicht. Ich forderte eine Hand und ein Auge – einen Partner – welcher meine Vorgaben respektierte und aufnahm, meine Grenzen erkannte, meine Linien weiterführte, meine Wahrnehmung zuließ und eine Begegnung zwischen den Welten festhielt. Und das gelang tatsächlich, durch die Entwicklung einer ganz eigenen „Zeichensprache“ mit meinem Buchpartner, da wir bereits bei unserer gemeinsamen Arbeit als Autorenpaar in einen sehr intensiven Dialog über innere Bilder geraten waren.

Wie funktionierte die blinde „Zeichensprache“

Wir begannen, meine Bildfantasien begleitend zu unserem 2015 veröffentlichten Taschenbuch „Liebe mit Laufmaschen“, mit Kohle auf Papier zu zeichnen. Es lag in der Natur der Sache, dass wir in unserem „blinden Verstehen“ ein einzigartiges kreatives Herangehen entwickeln und uns mit viel Fingerspitzengefühl eine ganz eigene künstlerische Ausdrucksform erarbeiten mussten. Wir suchten nach Kreide- und Kohlestiften, auch Fasermalern, die beim Agieren auf dem Papier hörbar und spürbar waren, einen gewissen Widerstand leisteten und dadurch mit mir in Kontakt traten. Ich hätte mir niemals vorstellen können, dem Klang und dem Sträuben eines Kohlestiftes etwas abgewinnen zu können. Ich lernte verschiedenste Stärken, Härten, Abriebe, auch Papierarten kennen. Da wir im ästhetischen Sinn „Schwarzmaler“ waren, schließlich war es auch die schwarze Szene, die uns zusammengeführt hatte, einigten wir uns auf Graukreiden und mischten mit Kohle, je nachdem, ob wir Linien oder Flächen entstehen lassen wollten. Egal ob geometrische Mathematiklehrerin, doppeldeutiger Fantasiepilz oder skurriles Kaspertheater, mein Partner erkannte meine symbolischen Linien und griff sie auf. Silhouetten musste ich mit zwei Kohlestiften gleichzeitig entstehen lassen, um den Kontakt zur gegenüberliegenden Körperhälfte nicht zu verlieren. Eine interessante Erfahrung war es, mich mit dem Stift führen zu lassen. Ähnlich wie beim Gehen mit einer Begleitperson, gab ich das Ziel an, ließ mich aber auf dem Weg dorthin unterstützen. Wir stellten schnell fest, dass das Zeichenutensil dabei nicht abgesetzt werden durfte, damit ich die innere Vorstellung nicht verlor. Auch bei Schattierungen an Linien entlang ließ ich mich gern begleiten, da dadurch der Kontakt zum Papier und zur entstehenden Gestalt besonders intensiv wurde. Allerdings fiel es mir im Vergleich zum Geführtwerden deutlich leichter, Linien zu verstehen, die ich eigenständig erzeugt hatte. Manchmal lenkten wir gegenseitig unsere Hände, um eine Perspektive zu verdeutlichen, fanden nicht zu einander, bogen und formten unsere Körper, um unsere Sichten der Dinge zu kommunizieren. Nicht selten gerieten wir an unser Limit, eigentlich jeder an ein anderes, experimentierten uns in Rage, rangen nach Worten, erzeugten Schablonen, schnitzten in Kartoffeln, interagierten über eigens für mich organisierte Schwellpapierbögen und gaben es nicht nur einmal verzweifelt auf. Wie viel blinde Perspektive, Wahrnehmung, Wahrheit zulassen? Wie viel Perfektion dem Auge einräumen? Die Liebenden auf dem Papier scheiterten allzu oft an unseren Kämpfen. Wir verheimlichen nicht unsere Grenzen, nicht die unzähligen Entwürfe und Übertragungen, auch nicht den Balanceakt zwischen blindem Bloßstellen und sehender Kontrolle (auch umgekehrt) und die Tatsache, dass wir uns dieses wunderbare Vergnügen nie wieder antun wollen.

Unvollendungen mit Eigensinn

Mit viel Feingefühl und Herzblut gelangten wir zu gerahmten Unvollendungen, eben wie wir, so perfekt unperfekt, welche die Begegnung unserer Welten dokumentierten. Manchmal können Stifte Brücken sein, ohne den anderen zu übermalen. Das Leben ist schließlich so vielfältig, wie die Perspektiven, aus denen man es betrachtet und dabei bedingen die unterschiedlichen Sichtweisen die Definition von Wirklichkeit. Der Eigensinn ist uns dabei wohl der wichtigste aller Sinne geblieben.

Dieses Thema erschien auch  im „Galeriegeflüster“ und auf „Liebe mit Laufmaschen“, wo Interessierte dem Kohlestift in meiner Hand folgen können. Die Bilder sind jeweils mit einer ausführlichen Bildbeschreibung versehen.

Ergänzende Links zu unserem Projekt:

https://www.mz.de/lokal/halle-saale/jennifer-sonntag-blinde-erfolgreiche-schriftstellerin-will-kein-mitleid-1502190

https://kobinet-nachrichten.org/2018/09/25/mitteldeutscher-inklusionspreis-verliehen/https://kobinet-nachrichten.org/2018/09/25/mitteldeutscher-inklusionspreis-verliehen/

https://www.liebemitlaufmaschen.de/1171-2/https://www.liebemitlaufmaschen.de/1171-2/