„Heimat und Tod“

Als sie fortging

Ich lag auf dem aufgeklappten Schlafsofa meiner Oma und kuschelte mich eng an sie. Am Vorabend hatten wir in einem Nachrichtenbeitrag einen Tross flüchtender Menschen gesehen. Die traurigen Fernsehbilder mussten sie getriggert haben. Sie begann im Schutze zahlreicher Sofakissen ihre frühe Lebensgeschichte in meine hellwachen Kinderohren hineinzuerzählen, eine Geschichte von verlorener Heimat, zerstörter Jugend, Trauma und Tod.

Durch die Vertreibung aus Schlochow bei Danzig wurde 1945 ein großer Teil unserer Familie ausgelöscht. Meine Oma berichtete von ihrem Vater, der sich in einem so schlechten Zustand befunden hatte, dass sie ihn in einer Schubkarre transportieren mussten. Die Folgen der Vertreibung überstand er nicht. Unterwegs hatten sie sich mit Bauchtyphus angesteckt. Es passierte, als sie vollkommen ausgehungert in ein Haus eingekehrt waren, um dort etwas zu Essen zu bekommen. Sie erinnerte sich, dass sie zusammen mit Mutter und Tante in ein Bett gelegt wurde. Als meine Oma von ihren unzähligen Toilettengängen zurückgekehrt war, fand sie beide Frauen nicht mehr vor. Auch sie hatten nicht überlebt. Aus dem Buch der Familie interpretiere ich, dass es außerdem noch eine Schwester getroffen haben musste. Dies ist natürlich nur eine Facette von kriegsbedingtem Leid, die in unserer Erinnerungskultur nicht kontextlos betrachtet werden darf.

Die Eltern meiner Oma hatten vor der Vertreibung aus Schlochow einen Bauernhof betrieben. Sie erzählte mir oft, wie sie als kleines Mädchen die Kühe gehütet und ihnen aus Blumen Kränze geflochten hatte, die sich die Tiere munter von den Hälsen futterten. Sie berichtete vom Buttern und vom Backen. Die Brote wurden in einen großen Frau-Holle-Ofen geschoben. In den schneereichen Wintern spannten die Kinder die beiden Pferde Lise und Lotte vor den Schlitten und ließen die Glöckchen rasseln. Im Sommer setzte sich meine Oma gern an die nahegelegene Ostsee und erfreute sich an den Wellen, die ihre Füße sanft umspülten. In der Schule schrieben sie damals noch auf Schiefertafeln. Ihren geliebten Vater hatte meine Oma dafür geschätzt, dass er die Bediensteten nicht am „Gesindetisch“, sondern gemeinsam mit der Familie speisen ließ. Ihre Mutter hatte unabhängig von der späteren Vertreibung bereits zwei kleine Mädchen verloren. Eine Tochter wurde wenige, die andere nur einen Tag alt. Das war seinerzeit nicht selten.

Mit etwa elf Jahren fand sich meine Oma in einem Kinderheim wieder, in dem es alles andere als heimelich war. Wegen des Ungezieferbefalls hatten sie allen eine „Bombe“ rasiert. Man schüttete ihnen mitten auf den Tisch einen Haufen heißer Kartoffeln. In den Bauch bekamen nur diejenigen etwas, die besonders schnell mit den Fingern pellen konnten. Trotz Parkinson hätte meine Oma wohl bis ins hohe Alter noch jeden Wettbewerb gewonnen. Leider erlebte sie in der Pflegefamilie, von der sie aufgenommen wurde, durch ihre Stiefmutter und deren Söhne Tyrannei und Schikane, sodass ihre Wunden hier nicht heilen konnten. Sie diente der Familie wohl als Haushaltshilfe. Ich frage mich heute, ob meine Oma nach ihrer frühen Kindheit in Schlochow jemals wieder die Möglichkeit hatte, eine Schule zu besuchen. Das Leben meinte es eine kurze Zeit gut mit ihr, als sie bei Menschen „in Stellung“ kam, bei denen sie sich zuhause fühlen konnte. Aus Angst vor gewaltvoller Enteignung verließen diese Vertrauten jedoch in einer Nacht- und Nebelaktion Haus und Hof und meine Oma blieb mit blutendem Herzen und einem Abschiedsbrief wieder allein zurück.

Sie lernte meinen Opa kennen. Auch er wurde mit seiner Familie vertrieben, aus dem nahegelegenen Danzig. Seine Schwester hatte Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten erlitten. Meine Großeltern unternahmen später von Halle aus mit einem gemieteten Auto eine Reise in ihre alte Heimat und besuchten auch das Geburtshaus meiner Oma. Ich erinnere mich an ein Foto, was sie hütete, wie einen Schatz. Wenn sie es mir zeigte, deutete sie mit dem Finger auf die teils zugemauerten Fenster und füllte die inzwischen polnisch bewohnten Zimmer mit ihren Kindheitserinnerungen. Eine überlebende Schwester meiner Oma war zum Zeitpunkt der Flucht erst vier Jahre alt. Sie hatten einander im Erwachsenenalter über das DRK wiedergefunden. Von meiner Mutter weiß ich, dass mein Uropa „ins Wasser gegangen ist“, als sie selbst neun Jahre alt war. Hut, Stock und Brille hatte der von Krieg und Krankheit schwer gezeichnete Mann zuvor fein säuberlich am Saaleufer abgelegt. Er war als guter Schwimmer bekannt. Vielleicht hatte er gehofft, seine verlorene Heimat im Suizid wiederzufinden?

Die Beziehung meiner Großeltern stand unter keinem guten Stern. Mein Opa entpuppte sich als Trinker und Schläger. Warum wurde er, der selbst Zeuge von so viel Gewalt und Zerstörung war, ausgerechnet seiner Familie gegenüber zum Täter? Vielleicht hatte er aus seinen Kindheitserlebnissen auch einen tiefsitzenden Knacks mitgenommen, was nichts entschuldigt. Verletzte Menschen verletzen Menschen. Meine Mutter fühlt sich noch heute in Alpträumen von ihrem prügelnden Vater verfolgt, ruft laut um Hilfe und wacht schweißgebadet mit der Angst auf, er würde betrunken neben ihrem Bett stehen. Früher hatte er versucht, sie mit dem Kopfkissen zu ersticken und mit einem Hammer zu attackieren, sodass sie nicht nur einmal bei den Ratten im Keller schlafen musste. Nun war sie auf der Flucht. Diese Ehe brachte auch aus meiner gebeutelten Oma den eigenen Kindern gegenüber nicht gerade die adäquatesten Verhaltensweisen hervor. Wenn er ihr das Gesicht zerschlug, sagte sie zu seinem Schutz, dass sie auf der Treppe gestürzt sei. Irgendwann drehte sie aus Überforderung den Gashahn auf und hätte wohl in Kauf genommen, meine Mutter und ihre zwei Geschwister zurückzulassen. Mir fällt ein Zitat der Band Kraftklub ein: „Doch da gibt es Unterschiede, die du irgendwann bemerkst“. Ich sehe heute die Blessuren, die unsere Familie diesbezüglich prägten und mir wird bewusst, dass wir entscheidende Privilegien einfach nicht hatten.

Je älter ich werde, umso mehr denke ich über die Lebensläufe meiner Oma und meiner Mutter nach. Wir drei Frauen hatten aus jeweils unterschiedlichen Gründen anspruchsvolle Kindheiten mit unterschiedlichen Herausforderungen: meine Oma die todbringende Vertreibung aus ihrer Heimat, meine Mutter ihren gewalttätigen Vater und ein nicht sicheres Elternhaus, ich meine schleichende Erblindung und den unverarbeiteten Ballast der vorherigen Generationen. Reproduziertes Trauma prägt auch das eigene Verhalten und Erleben. Irgendwie haben wir alle auf unsere Weise ein Stück Heimat verloren und mussten eine neue finden. Aber in diesen Geschichten steckt auch unendlich Liebe und Lachen. „So viel kaputt, aber so vieles nicht“ (Wir sind Helden). Wir hatten eine ureigene und oft auch urkomische Kreativität und Fantasie, für die wir kein Geld brauchten.  Mit meiner Oma war ich eng verkoppelt und bin es auch noch nach ihrem Tod. Sie schenkte mir die Sicherheit und Geborgenheit, die heile Welt, die sie ihren Kindern damals nicht geben konnte. Ja, man kann sagen, dass ich, wenn ich an Heimat denke, meine Oma vor mir sehe, dann fühle ich mich aufgehoben, zwischen all ihren bunten Sofakissen in meinem Kopf. Sie, die ihre Heimat verloren hat, wird mir immer Heimat bleiben.

Diese Kolumne erschien in der Novemberausgabe 2024 der „DRUNTER + DRÜBER“, zum Thema „Heimat und Tod“. Das aktuelle Magazin für Endlichkeitskultur gibt’s hier (externer Link) als Print- und Digitalfassung: