Ist „Blind Facing“ noch zeitgemäß?

Jennifer Sonntag vor der Kamera
Jennifer Sonntag vor der Kamera
Foto: privat

Blind Facing bedeutet für mich, dass sehende Darsteller*innen blinde Charaktere verkörpern. Für diese schauspielerische Leistung ernten sie oft große Anerkennung und werden sogar mit Preisen ausgezeichnet. Der Oberbegriff dafür heißt Cripping up. Viele Menschen mit Behinderungen sprechen sich gegen Cripping up aus und setzen sich dafür ein, dass mehr Inklusion auf Theater- und Opernbühnen und vor Film- und Fernsehkameras stattfindet. Ich mache mich in verschiedenen Kultur- und Medienprojekten dafür stark, dass Menschen mit Behinderungen in allen relevanten Gewerken dieser Branchen sichtbarer werden.

Ich selbst erlebte die Darstellung sehbehinderter und blinder Charaktere durch sehende Personen insbesondere in meiner Kindheit als wenig empowernd. Für die Erfindung seiner Figur “Siggi“ war ich Hape Kerkeling in den 80ern zum Beispiel nicht gerade dankbar. Hape stellte in der Rolle des Siegfried Schwäbli einen trotteligen, stark sehbeeinträchtigten Mann dar, der mit einer hässlichen Hornbrille mit dicken Glasbausteinen ausgestattet war. Auf der Brille lag ein Stigma. Viele von uns hochgradig sehbehinderten Kindern trugen solche dicken Brillen, die als Mitropa-Aschenbecher verschrien waren. Meine Eltern konnten dieses Image damals natürlich bewusster reflektieren als ich und waren peinlich berührt, wenn es sich medial weitertrug. Sie wollten nicht, dass ich als behindertes Kind so wahrgenommen wurde, wie „Siggi“ im Fernsehen. Aber es war eine Herausforderung, bei dieser erheblichen Brillenstärke schöne Gestelle für kleine Mädchen zu bekommen. Moderne Technologien zur Fertigung dünnerer Gläser wurden erst viele Jahre später entwickelt. Diese teuren Gläser konnte sich aber nicht jeder leisten, denn sie wurden von den Kassen nicht übernommen. Mir graute vor jedem Fernsehabend, an dem Hape wieder alles dafür tat, das Klischee vom sehbehinderten Schwachmaten ordentlich zu beleben.

Ich hatte öfter diese beschämenden Momente, wenn in Film oder Fernsehen eine blinde oder hochgradig sehbehinderte Person besonders dümmlich von einer nicht behinderten Person dargestellt wurde: blind gleich blöd. Warum hätte man die Figur dann nicht wenigstens etwas Schlaues oder Unerwartetes tun lassen können? Oft konnte ich wegen dieser negativen Reproduktionen nicht unbefangen mit anderen fernsehen. Ich weiß noch, dass wir an der Regelschule den Streifen „Hot Shots! – Die Mutter aller Filme“ mit englischem Originalton geschaut haben. Ich war in dieser Zeit sehr angespannt, da ich wegen meiner Sehbehinderung ohnehin gemobbt wurde. Ich fand diesen Film auch total witzig damals, zitierte daraus bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit meiner besten Freundin, die auch sehbehindert war, aber „Fischauge“, ein halbblinder Leutnant, spielte mir auf dem Gymnasium nicht gerade in die Karten. Und ich, die „Halbblinde“ lachte ein Selbstschutzlachen im schulischen Fernsehraum, obwohl ich hätte vor Scham im Boden versinken können.

Für mich macht es einen entscheidenden Unterschied, ob sich eine sehende Person ein „blindes Gesicht“ aufsetzt, oder ob eine schauspielende Person selbst blind ist. Wären blinde Schauspieler*innen bereit gewesen, sich selbst in Filmen derart dümmlich darzustellen? Vielleicht schon. Ich selbst habe viele Jahre versucht das Eis zwischen mir und sehenden Menschen zu brechen, indem ich die härtesten Blindenwitze persönlich zum Besten gab, bevor es jemand anders tat. Heute nennt man das internalisierten Ableismus. Ich bin noch immer ein humorvoller Mensch, aber reflektiere solche Mechanismen heute kritischer. Künstler*innen und Schauspieler*innen mit Behinderungen haben mehr zu geben, als immer wieder dieselben Klischees zu reproduzieren, um die Bevölkerung zu bespaßen. Wir wollen durch unsere Behinderung nicht allein einer fragwürdigen Unterhaltung oder Inspiration dienen, sondern in vielen Fassetten gezeigt werden.

Damals, ebenfalls noch unhinterfragt, konfrontiert wurde ich mit dem Gefühl des „Blind Facing“ als mich ein Kollege aus dem sozialpädagogischen Umfeld zu einem Theaterstück mit den Worten einlud: “Kommst du heute Abend? Ich spiele einen Blinden!“ Das war ganz sicher gut gemeint, denn ich befand mich gerade selbst im Prozess der Erblindung und wir arbeiteten beide im Bereich der Blindenbildung. Er dachte sicher, ich würde mich freuen, das Blindheitsthema durch ihn auf der Bühne repräsentiert zu sehen. Statt Freude regte sich in mir jedoch ein ganz anderes, sehr starkes Gefühl, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Ich hatte mich extra in die erste Reihe gesetzt, um mit meinem Sehrest noch etwas vom Bühnengeschehen mitzubekommen. Hell erleuchtet vom Scheinwerferlicht mimte mein Bekannter voller Inbrunst nun „den Blinden“ und auch wenn das in bester Absicht war, fühlte sich die von einem Sehenden hingekörperte Blindheit bloßstellend, verletzend, beschämend und vorgeführt an. Damals gab es noch keinen Austausch zum Thema Cripping up, ich hatte keine Begriffe zu diesen starken Emotionen in mir und konnte sie nicht einordnen. Ich dachte es läge an mir, das mich das so irritierte.

Später bewegten mich zwei Filme mit blinden Protagonist*innen auf jeweils sehr unterschiedliche Weise: „Die Blindgänger“ und „Erbsen auf halb sechs“. Beide erschienen 2004 und beide erlebte ich mit Audiodeskription, also mit Hörbeschreibung für blinde Menschen. Es ging also nicht mehr nur darum, Sehende mit der Zur-Schau-Stellung Blinder zu unterhalten. Wir waren als Publikum mitgedacht. Beim Kinder- und Jugendfilm „Die Blindgänger“ wurden blinde und sehbehinderte Darstellende inkludiert. Die Teenager bewegten sich in für ihre Zeit durchaus realistischen Kulissen und Themen, es ging um Musik, das Internatsleben, die erste Liebe und den Umgang mit Vorurteilen. Hier schaffte ein Jugendfilm, was bis heute im Erwachsenenbereich in Kino- und Fernsehfilmen unzureichend umgesetzt wird. Leider spielen in der Regel sehende Schauspieler*innen blinde Protagonist*innen. So auch in „Erbsen auf halb sechs“. Viele blinde Menschen stießen sich an den filmischen Überhöhungen und der unrealistischen Darstellung von Blindheit. Dennoch enthielt der Film auch authentische Momente und eröffnete einen neuen Dialog zwischen blinden und sehenden Menschen, ein Alltagstrick, wie die Orientierung auf dem Teller, wurde plötzlich salonfähig. Und ich freute mich ehrlich darüber, wenn mir im Restaurant das Menü mit den Worten: „Mangocurry auf sechs, Reis auf zwölf, Glas Wein bei zwei“ serviert wurde.

Zuschauer*innen wissen in der Regel, dass filmische Inhalte nicht immer der Realität entsprechen. Da aber zu Menschen mit Behinderungen oft Berührungspunkte fehlen, ist das im Film Gesehene meist das einzig Vorstellbare. In meinen Seminaren und Workshops wurde ich über viele Jahre auffallend häufig mit einer gewissen Faszination von blinden Menschen konfrontiert, die sehende mit den Filmen „Die blinde Schwertkämpferin“ und Daredevil“ verknüpften. Oft wirkten meine Gegenüber fast schon ein bisschen enttäuscht, wenn ich ihnen erklärte, dass ich keine Superheldinnentalente hätte. Manchmal fühlte ich mich regelrecht belehrt von sehenden Personen, die mir ausmalten, zu welchen Fähigkeiten ich in der Lage sein müsste, weil es ihnen andere Sehende in blinden Filmrollen ins Hirn geschauspielert hatten. Können gute Dokumentarfilme, in denen blinde Menschen sich zwangsläufig selber darstellen, dieses Problem ausräumen? Zum Teil, denn auch hier werden oft Geschichten behinderter Menschen erzählt, die Außergewöhnliches geleistet haben und der Alltagsmensch mit Behinderung gerät in Rechtfertigungsnöte, weil er ein ganz normales Leben führt. Auch wenn ich die Dokumentarfilme „Blindsight“ und „Unter Blinden“ empfehle, sage ich doch dazu, dass nicht alle blinden Menschen Berge besteigen. Es sind ja auch nicht alle Sehenden Popstars geworden. Dennoch halte ich es für wichtig, auch erfolgreiche und mutmachende Lebensgeschichten von blinden Menschen zu dokumentieren, mit allen Höhen und Tiefen, die dazugehören. Als ich selbst noch einen kleinen Sehrest hatte, war ich ganz bewegt von dem Dokumentarfilm „Augenlied“, denn hier wurden verschiedene blinde Menschen portraitiert, die mich empowerten, so auch die spanische Nachrichtensprecherin Nuria del Saz. Ich ahnte damals noch nicht, dass ich selber einmal viele Jahre als blinde Frau vor der Fernsehkamera arbeiten würde, aber durch die Doku hatte ich verinnerlicht, dass so ein Beruf für uns blinde Menschen grundsätzlich möglich war.

Serien wie „Blind ermittelt“ und „Die Heiland – Wir sind Anwalt“ erfreuen sich großer Beliebtheit. Schön, dass Blindheit so im Mainstream angekommen ist und dass neben konstruierten Szenen auch immer ein bisschen Lebenswelt blinder Menschen mittransportiert wird. Schade, dass die blinden Hauptrollen nicht selbst blind sind.

Und als „echte“ blinde Frau, die inzwischen selbst ausreichend fürs Fernsehen arbeitete, prangere ich an, dass wir blinden Menschen zwar imitiert werden, aber selbst kaum vor der Kamera stattfinden, höchstens als Talkshow-Gäste, aber nicht als Schauspieler*innen oder Moderator*innen eigener Formate. Blindheit dient in diesem Zusammenhang also oft dem emotionalen Entertainment sehender Menschen und blinde Personen werden noch immer überwiegend von sehenden Schauspieler*innen dargestellt. In der gesamten Film- und Fernsehbranche gestalten zu großen Teilen sehende Menschen das Thema Blindheit als kommerzielles Produkt. Besser fühlt sich das an, wenn „echte“ blinde Menschen involviert sind. So berät die blinde Anwältin Pamela Pabst die Serie „Die Heiland“ als Expertin und ihre Autobiografie wird auch als Quelle zur Entstehung der Serie genannt. Der Kinofilm „Mein Blind Date mit dem Leben“ basiert auf dem gleichnamigen Buch des blinden Autors Saliya Kahawatte. Aber nicht nur autobiografische Stoffe blinder Menschen als Grundlage für filmische Inhalte sind interessant. Für mich wäre auch wünschenswert, dass Menschen mit Behinderungen aktiv als Drehbuchautor*innen berücksichtigt werden und es z.B. bei der Einbindung blinder Schauspieler*innen nicht immer primär um deren Behinderung geht. Allerdings wird die Ausbildung blinder Menschen in diesen Tätigkeitsfeldern noch zu wenig unterstützt und es wird noch zu wenig gesehen, dass wir mit unserer Expertise vor, auf und hinter der Bühne mitmischen müssen. Befangenheiten bei sehr visuell arbeitenden Menschen kommen sicher auch daher, dass z.B. Dreharbeiten mit einer blinden Person ein Umdenken beim Team und am Set erfordern. Oft scheint es leichter, einen sehenden Menschen blindes Verhalten imitieren zu lassen, als mit einem blinden Menschen vor der Kamera zu arbeiten. Persönliche Drehassistent*innen sind hier ein sinnvoller Ansatz, wie es bei Arbeitsassistenz in anderen Bereichen eben auch gehandhabt wird.

Und dann gibt es da noch ein anderes Phänomen, was ich „Blind Simulation“ nenne. Ich kann zwar nicht sehen, manchmal aber offensichtlich hellsehen. Als ich 2017 das Manuskript für mein Buch „Der Geschmack von Lippenrot“ einreichte, ahnte ich noch nicht, dass eines meiner Kapitel zum Thema „absurde Trends“ bald Realität werden würde. Ich schrieb: „Ich persönlich warte ja auf den Tag, an dem Blindheit zum Hype erklärt wird. Da sehe ich schon die Mädels mit strassbesetzten rosa Augenklappen unbeholfen über die Straßen torkeln. Wer souverän auf beiden Seiten eine trägt, gehört dann selbstverständlich zu den angesagtesten Fashionistas. Und es gäbe einen riesen Markt an Beauty-Zusatzprodukten für den Glitzer-Blindheitstrend: Glitzerblindenstöcke, Einhorn-Braille-Schreiber, unsichtbare Lifestyle-Events und Leute, die an den trendy Blindinen Millionen verdienen. Mein Lektor schrieb mir, es sei fast schon kurios. Er lese gerade die Endkorrektur zu meinem Buch und müsse mir quasi prophetische Fähigkeiten attestieren. Meine Aussage sei gewissermaßen Wirklichkeit geworden, wenn auch die Styling-Aspekte hier nicht im Vordergrund stünden.

Zahlreiche Netflix-Zuschauende nahmen den Filmtitel „Bird Box – Schließe deine Augen“ zu wörtlich. Im Film versucht Sandra Bullock in einer postapokalyptischen Welt zu überstehen. Die Erde wird darin von Wesen überfallen, die alleine durch ihren Anblick Menschen dazu veranlassen, Suizid zu begehen. Die Lösung für alle, die überleben wollen, sind verbundene Augen. Der Horrorstreifen inspirierte zu einer Challenge: zur sogenannten Bird Box Challenge. Die Teilnehmenden verbanden sich freiwillig die Augen, holperten und stolperten durch verschiedene Alltagsszenen, zogen sich Blessuren zu und verulkten das Nicht-sehen-können nach Strich und Faden. Die Clips überboten sich in den sozialen Medien und es entstand ein fragwürdiges, durch einen Film ausgelöstes Phänomen, was manche blinde Menschen befremdete: Entzug des Augenlichts als Nervenkitzel. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband wies daraufhin auf die wahren Herausforderungen „echter“ blinder Menschen im Alltag hin und betrachtete die Challange durchaus kritisch.

Natürlich nehmen wir uns viel weg, wenn Unterhaltung sich nur noch ausschließlich an der Lebensrealität marginalisierter Gruppen ausrichten soll und es keinen Humor und keine Fantasie, keine filmische Überhöhung oder dramaturgische Zuspitzung mehr geben darf. Das dominierende Problem ist die fehlende Chancengleichheit. Blind Facing und Cripping up verhindern Inklusion in der Branche. Wenn nicht behinderte Darsteller*innen uns auf Bühnen und in Filmen spielen, sich unsere Identitäten aneignen oder sich an unseren Geschichten auf eine unangenehme Weise bereichern, dann sind wir nicht wirklich repräsentiert. Das gilt auch für die Fotografie. Auch hier immitieren nicht betroffene Models noch immer in ganz verschiedenen Kontexten behinderte Menschen, ausgestattet mit Rollstuhl oder Blindenlangstock oder mit allem, was nichtbehinderte Fotograf*innen sich im Zusammenhang mit Behinderung vorstellen und dann aus ihrer Perspektive transportieren. Teilhabe und Teilgabe haben wir jedoch erst erreicht, wenn echte Menschen mit Behinderungen vor der Kamera und in repräsentativer Zahl sogar hinter der Kamera agieren, z.B. auch als Autor*innen oder Dramaturg*innen, im Masken- oder Bühnenbild oder bei der Mitarbeit an barrierefreien Umsetzungen von Filmen oder Bühnenstücken. Und talentierte Menschen mit Behinderungen, die es ins Rampenlicht zieht, müssen die Möglichkeit haben, sich an inklusionsoffenen und barrierefreien Schauspielschulen ausbilden zu lassen, um vielschichtige Rollen zu bekommen, wobei die Behinderung dann auch nicht immer im Fokus stehen muss.

Link zum IGEL-Podcast zum Thema „Blind Facing“