Kein Grab zu tief für die Musik
Musik und Tod, das waren bereits zwei entscheidende Zutaten in meiner Kinderzimmerdeko. Sid Vicious, fotokopiert aus raren Sex-Pistols-Fanzines, pöbelte von sämtlichen Wänden und meine Barbies wurden als Nancy-Spungen-Doubles in einen lackledernen Junkie-Look gezaust. Meine Schulheftränder waren verziert mit Totenkopflogos von Lieblingsbands. War ich ein Kind von Traurigkeit? Vielleicht war ich es genau deshalb nicht, weil ich als junge Punkerin ein Ventil fand für meine Angst vor Verlust und Vergänglichkeit. Und den größten Trost fand ich in Musik und Subkultur.
„Born to lose“ hatte mehr mit mir zu tun, als ich mir damals eingestehen wollte. Unsere Szene bestand aus Kids, die alle irgendetwas verloren hatten, die kleine und große Tode starben. Einige hatten ihre Eltern oder ihr Zuhause verloren und lebten auf der Straße, andere büßten dort durch Prostitution viel zu früh ihre Unschuld ein und andere durch Drogen ihr junges Leben, ich hingegen sollte bald mein Augenlicht verlieren, ich wusste nur noch nicht wann. Bis das soweit sein würde, rebellierte ich gegen soziale Missstände in der Gesellschaft, sah inzwischen ähnlich gewöhnungsbedürftig aus, wie meine umgepunkten Barbies und so klang auch die Musik, die ich hörte. Das warf Fragen auf in der Lehrerschaft und irritierte Familienmitglieder. Einen deutlichen Push hatte meine Auseinandersetzung mit Düsterthemen damals auch durch meine unfreiwillige Außenseiterinnenrolle an einem Gymnasium erfahren. Je weniger ich dazugehören konnte, je lauter ihr hämisches Lachen, umso lauter wurde auch die Musik unter meinen Kopfhörern. Während sich meine Mitschüler*innen konkurrenzkämpfend in eine erfolgreiche Zukunft visualisierten, konnte ich im wahrsten Wortsinn zunehmend intensiver mit dem Finger dran fühlen, dass Zerbrechlichkeit, Sterblichkeit und Verlorenheit ebenso zum Leben gehörten und dass eben dieses Leben manchmal etwas anderes mit einem vorhatte, als man sich wünschte.
War das ein Grund, alles „schwarz“ zu sehen? Auch wenn mein Musikgeschmack mit eintretender Erblindung wirklich zunehmend schwärzer wurde und sich Übergänge von der Punk- zur Gothicszene formten, machte mich gerade das zu einem lebensbejahenden und vielseitig interessierten Menschen. Das war durchaus erhellend. Ich wurde süchtig nach Erkenntnis und suchte in all den Büchern, die ich bald nicht mehr lesen konnte, nach Antworten auf meine brennenden Fragen zwischen Leben und Tod. Die Soundtracks meiner Jugend und die Aufgaben, die sie mir mitgegeben hatten, nahm ich mit in mein Studium. Ich durfte nun lernen, etwas gegen die sozialen Missstände zu tun, von denen ich Augenzeugin geworden war. Durch Beruf und Berufung eröffnete sich ein neuer, erfüllender Sinn, wenn auch mein Sehsinn vor sich hin starb.
Na, die Ohren waren mir geblieben. Meine geliebte Musik konnte ich noch hören, auch wenn ich ehrlicherweise darunter litt, meine Lieblingsbands auf der Bühne nicht mehr zu sehen. Ich war eine junge Frau voller Lust und Leidenschaft und manch Augenschmaus sollte mir nun entgehen. Aber ich gab es nicht auf, mit meinem damaligen Partner zu so vielen Konzerten wie möglich zu fahren und erhielt nun oft Gelegenheit, mit Bands zu sprechen oder einen Händedruck zu erheischen, eine Art gefühlte Autogrammkarte. So lernte ich auch die Leipziger Indie-Band Lament kennen, deren einstiger und langjähriger Keyboarder Dirot heute der Mann an meiner Seite ist. Kürzlich hatten wir einen merkwürdig verbindenden Moment: Ich zitierte wie aus dem Nichts einige Zeilen aus dem Lament-Song „Last Dance of Summer“ und Dirot meinte: „Komisch, das Lied ging mir auch gerade durch den Kopf, weil ich drüber nachgedacht habe, was mal auf meiner Beerdigung gespielt werden soll“. Uff, seit seinem Unfall vor fast zwei Jahren kann ich solche Aussagen nicht mehr mit denselben Ohren hören, wie zuvor. Und seit ich weiß, wie Depression schmeckt, tanze ich anders zum Schneewittchen-Song „Der Tod hat sich verliebt“.
Sid Vicious pöbelt heute nicht mehr von meinen Wänden, aber die Kombination Musik und Tod ist auch heute noch eine Verschwisterung, die mir in Kunst und Kultur, Musik und Literatur mehr Kraft gibt, als dass sie schreckt. Ängste werden besprechbar, integrierbar und weniger bedrohlich. Zäsuren haben mich früh erwachsen und heute noch ein bisschen demütiger gemacht. Im Laufe der Jahre habe ich meine Lieblingslieder um die Klangfarben meines Lebens ergänzt. So halte ich es nun schließlich auch mit dem Casper-Song „Ariel“, in dem es heißt, dass „Noten ewig leben“ und in diesem Sinne ist „kein Grab zu tief für die Musik“. Aber bis dahin glaube ich fest daran „dass ein Song noch immer Leben retten kann“ und „dass den Liedern die man liebt, immer Frieden inne liegt.“
Diese Kolumne erschien in der Maiausgabe 2022 der „DRUNTER + DRÜBER“, zum Thema „Musik und Tod“. Zur Printausgabe der „DRUNTER + DRÜBER“, dem Magazin für Endlichkeitskultur, geht’s hier: https://gluecklicher-montag-shop.de/product-category/drunterdrueber/
