„Tiere und Tod“

Seelenstreichler

Sie ist schwarz und fühlt sich etwas rundlich an, wie meine Hündin selbst, die jetzt in ihr wohnt. Ich habe die Urne nach dem Wesen des geliebten Tieres ausgewählt. Das Gefäß hat eine sanftmütige, warme Ausstrahlung und ich streichle gern darüber, als sei es „Metaxas“ Kopf. Sie steht neben einer Skulptur, die einen schlafenden Hund darstellt, auf einem Schrank, der bedeutsame Kleidungs- und Schmuckstücke enthält. Meine Hündin soll Teil meines Gefühlslebens und meiner Alltagswelt bleiben und mir war wichtig, dass sie wieder zu mir nachhause kommt.

Ich traue mir selten, den Deckel der Urne zu lupfen. Zu viel Respekt habe ich vor dem, was das geliebte Tier nun ist. Ich dachte ich müsse verbrennen und erfrieren zugleich, als ich dieses Tütchen Asche erstmals in den Händen hielt, mit einem Schamottstein darin, für die Identifikation. Auch wenn ich sie nun in diesem Zustand berühren kann, begreifen kann ich es noch immer nicht, dass dies meine zu Asche gewordene Hündin ist. Sie bleibt für mich mein Lebensschatz, voller Vielgestalt, Lebendigkeit, ich kann sie in meinem Herzen und in meinen Gedanken empfinden, weit über physische Grenzen hinaus. Meine Eltern hatten am Ende meines Abiturs der Anschaffung eines Hundes zugestimmt, da eine unheilbare Augenkrankheit mir gerade das Leben versaute. Solange ich Verantwortung für den Hund hatte, kam ich nicht auf dumme Gedanken. Und wenn ich blind würde, ich schwor, das Tier nicht im Stich zu lassen. Auch wenn ich nach außen stark und gefasst wirkte, habe ich Metaxas Fell doch oft ordentlich durchgeheult. Es gab Phasen, in denen sie mein einziger Halt war. Zum Glück ist es nicht so, wie es überholte Trauermodelle besagen, dass wir Mensch oder Tier nach dem Versterben loslassen müssen, sondern dass wir uns weiterhin verbunden fühlen können. Wenn ich es auch vermisse, den atmenden und durchbluteten Körper meiner Hündin zu spüren, erlebe ich es als heilsam, dass ich sie nicht verliere, solange ich sie liebe.

Wenn etwas Einschneidendes passiert, erinnert man sich oft noch Jahre später daran, was in diesen Momenten gesagt wurde oder mit wem man sie geteilt hat. Bei schlimmen Ereignissen manchmal intensiver, als bei schönen. Obwohl, oder gerade, weil ich meiner Hündin so nahe war, durfte ich entscheiden, wann der Tierarzt kommen sollte. Meine Familie hatte mich intensiv dabei unterstützt, meine tierische Begleiterin zu pflegen. Auch wenn ich mich zuvor lange gefragt hatte, wann der richtige Zeitpunkt wäre „es“ zu tun, spürte ich ihn am Ende sehr deutlich. Metaxa hatte es geschafft, sich noch einmal auf ihren Lieblingssessel zu begeben. Wir hatten ihn für die alte Dame tiefer gelegt, weil sie keine Höhen mehr bewältigen konnte. Dort berührte ich sie letztmals in ihrem Hundekörper, den ich mir Millimeter für Millimeter einprägte. Sie lag friedlich hin drapiert und ich probierte sanft, ob wirklich keine Luft mehr aus ihrer Nase entwich. Sie war wunderschön, Welpe und Greisin zugleich unter meinen Händen, der Kreis schloss sich, sie musste nicht mehr leiden. Bei einem toten Tier entleert sich die Blase. Das befremdete mich nicht. Ich blieb bei ihr, bis sie abgeholt wurde. Mein Vater verhob sich an ihr. Keine Muskelspannung mehr im Tier, keine Gegenwehr. Die Tierbestatterin besprach mit uns die Formalitäten und wir suchten die Urne aus. Ich war so froh, dass ich dieses Hundeding mit meinem Paps durchziehen konnte. Das hätte ich nie alleine geschafft. Geteiltes Leid ist halbes Leid, das spürte ich jetzt deutlich wie nie. Meine Strickjacke, die ich zum Abschied getragen hatte, roch noch lange nach Metaxa. Erst als wir kurz darauf ihren Sessel auf die Mülldeponie fuhren, rissen meine Seelenwände ein. 

Ich hatte alles im Vorfeld so gut es ging bedacht. Eine Hundesitterin hatte uns in Metaxas letzter Lebensphase unterstützt, da keiner von uns den pflegebedürftigen Hund mit an den Arbeitsplatz nehmen konnte. Die Nummer des nahegelegenen Tierbestatters hatte ich beim Tierarzt erfragt und längst für den Notfall in der Schublade. In Metaxas besten Jahren hatte ich auch den Tierfriedhof „Am Goldberg“ in Halle besucht, ein wunderschöner Ort. Ich hatte mich jedoch für die Take-Home- Version entschieden, um später mit der Asche flexibler zu sein. Meine Meerschweinchen haben wir in unserer Gartenanlage beerdigt. Ich fürchtete bei jedem Umgraben, Krümel, Pepsi und Mucki würden in welchem Zustand auch immer, wieder zu Tage treten. Ein so großer Labrador wie Metaxa war dort nicht unterzubringen. Wenn ich auch als Kind Tauben, Katzen und Ratten in allen Verwesungsstadien gesehen und ohne Scheu mit Sezierstöckchen von allen Seiten begutachtet hatte, es wäre ein Alptraum gewesen, dem eigenen Tier so begegnen zu müssen. Im Biologiekabinett erkundete ich voller Faszination den reichen Bestand ausgestopfter Tiere, da unsere Schule für uns sehbehinderte Kinder so etwas bereithalten durfte, würde mein eigenes aber nie präparieren lassen. Ich finde es jedoch legitim, dass andere für sich diese Entscheidung treffen, weil sie die äußerliche Gestalt des geliebten Wesens erhalten wollen. Für jeden ist etwas anderes verbindend oder eben absurd. Die einen lassen sich einen Pfotenabdruck von ihrem toten Hund anfertigen, die anderen verstreuen seine Asche an den gewohnten Gassi- oder Urlaubsorten und wieder anderen hilft die Geschichte von der Regenbogenbrücke. Mein diesbezüglich größter Wunsch ist es, mit meinen Hunden zusammen auf dem Gertraudenfriedhof in Halle vereint zu sein, wo wir viele Jahre die schönsten Spaziergänge in verwunschener Natur erlebten. Leider ist die gemeinsame Beisetzung in meiner Heimatstadt noch nicht möglich. Einen Mensch-Tier-Friedhof gibt es beispielsweise in Aschersleben. Manche Menschen finden es pietätlos, dass Tiere auf dem Friedhof begraben werden. Ich finde es pietätlos, das pietätlos zu finden.

Nicht jedem ist ein Herz für Tiere gegeben und ich lernte schon als Kind, dass manche Menschen meine tiefe Trauer nicht verstanden, wenn eines meiner Haustiere gestorben war. Erster Todesfall: Hansi, der Wellensittich. Er war plötzlich nicht mehr da, als ich von der Klassenfahrt zurückkehrte. Da war es zum ersten Mal, dieses grausame Gefühl, was einen ergreift, wenn jemand stirbt, den man liebt. Die Welt erscheint plötzlich verzerrt und in anderen Farben. Im Schulbus lachte man mich aus für meine Tränen. Als Stadtkind zog es mich zu meiner Oma aufs Dorf, weil es dort so viele Tiere gab. Aber die wurden nicht zum Streicheln gehalten und die frisch geborenen Kätzchen, die wir Kinder eben noch anschauen durften, wurden nicht selten im nächsten Moment ertränkt oder gegen die Wand geklatscht. Die Dorfjungs jagten uns Stadtmädchen mit den Krallen und Köpfen toter Hühner und wir hatten ein ganzes Familienalbum voll mit Fotos vom Schweineschlachten, zum Glück in schwarz/weiß. Als Kind hat mich das noch nicht davon abgehalten, Wurst und Fleisch genüsslich mitzufuttern und ich konnte das lebende vom toten und das geliebte vom fremden Tier trennen. Heute reflektiere ich das bewusst und ernähre mich überwiegend vegetarisch bis vegan. Diese Gedanken macht sich zugegebenermaßen mein Hund nicht, der würde sich ungebremst quer durch die nächstgelegene Schlachteplatte fressen.

Ja, ich habe wieder einen Hund, auch wenn ich mir das nach diesem unbeschreiblichen Trennungsschmerz nicht vorstellen konnte. Inzwischen weiß ich, dass ich mich von Metaxa nicht getrennt fühlen muss. Getreu dem T-Shirt-Spruch „Ohne Hund ist alles doof!“ konnte auch ich mir ein Leben ohne Vierbeiner nicht vorstellen. Was mir jedoch Sorgen bereitete: Mit Metaxas Leben war über die Jahre auch mein Augenlicht verronnen, ich war mittlerweile vollständig erblindet. Würde ich einen jungen Hund bewältigen können? Die Lösung? Blindenführhund Paul! Er ist dafür ausgebildet, mich als blindes Frauchen im Alltag zu unterstützen. Da an diesem Tier nicht nur mein Herz, sondern in vielen Situationen im wahrsten Wortsinn mein Leben hängt, ist er für mich mehr, als „nur“ ein Hund. Es ist monströs mir vorzustellen, dass er einmal sterben wird. Was mich tröstet ist die Erfahrung, dass Verbundenheit und Liebe nicht vergehen. Mein Hund liegt gerade ganz nah bei mir und wundert sich, warum Frauchen beim Schreiben dieses Textes so viel geweint hat. Ich glaube, wir brauchen jetzt erstmal einen Spaziergang, um das Leben in vollen Zügen zu erschnuppern.

Diese Kolumne erschien in der Novemberausgabe 2023 der „DRUNTER + DRÜBER“, zum Thema „Tiere und Tod“. Das aktuelle Magazin für Endlichkeitskultur gibt’s hier als Print- und Digitalfassung (nicht für Screen Reader geeignet)

Jennifer Sonntag mit schwarzem Eis; Foto: Wolfgang Sonntag