„Sex und Tod“

Vorsicht zerbrechlich

Seit seinem Unfall weiß ich, dass man einen Menschen nicht nur ganz nah spüren kann, wenn man mit ihm verbunden ist, sondern auch, wenn man von ihm getrennt wird. Dieses Gefühl hat mich auf einen Schlag vernichtet, als ich spürte, dass da gerade etwas Schlimmes passiert ist, dass da etwas Gewaltvolles unser festes Band zerreißt. Es war, als würde auch ich in diesem Moment um mein, um unser Leben kämpfen.

Wir lebten viele Jahre nicht nur als Kreativ-, sondern auch als Liebespaar. Unser gemeinsames Buch „Liebe mit Laufmaschen“ war nicht nur literarisches Credo, wir entwickelten uns auch im Alltag am reizvollen Riss, der dem gewohnten Entwurf entgegenstand. In vielen unserer erotischen Texte thematisierten wir die Liebe und das Leben als fragiles Konstrukt, wobei Sex und Tod nah beieinander schwangen. Heute lese ich seine Geschichten mit einem tiefen Schmerz. So findet sich z.B. in Dirots Text „Vorsicht zerbrechlich“ das kalte Gefühl von Verlust und Verlorensein in einer winterlichen Frauenlandschaft wieder:

„Ich bin gerade sehr unsanft und ungrazil die Böschung runtergerutscht.
Frierend bleibe ich stehen, lange war es nicht mehr so kalt, auch in mir –  Stalingrad unter Null. Die Böschung, deren Schneehaut ich zwei Furchen zufügte, hat eine Zwillingsschwester, mit der sie gemeinsam eine ICE-Trasse rahmt –  endlos lang und makellos. Der sich optisch verjüngende Abstand beider Seiten führt zu einer schwarzen Höhlung: dem Tunnel. Über der Tunnelkrone ein kleiner kultivierter Bewuchs, der wohl Niederwild und gefiederten Brütern Unterschlupf gewährt, dahinter eine Senke und in der Ferne zwei sanfte Hügel mit bebauten Gipfeln –  wohl der Grund, weswegen dieser Tunnel getrieben wurde. Das alles durch den Schnee elfenbeinfarben koloriert, darüber ein nachtblauer Postkarten-Sternenhimmel. Jetzt sexualisiere ich selbst bitterkalte und menschenleere Landschaften! Und sieht diese Landschaft nicht aus wie sie, so elfenbeinfarben, so perfekt? Der Unterschied war einzig und allein jene kleine rosafarbene Knospe in ihrem Unterholz, die ihre gesamte Ebene zum Beben bringen konnte, wenn man sie nur sanft berührte … Doch hier bleibt alles kalt und unbeweglich.“

Bei einem Autor fragt man sich oft, wen er wohl beschreibt in seinen Texten. Ich fragte mich das auch immer wieder. Was war eine Geschichte, was war ich, was waren wir darin? Und was war er in meinen Geschichten? Wenn ich seine Zeilen heute lese sehe ich ihn, wie er ohne mich, ohne uns darin zurückbleibt, so wie ich es nach seinem Unfall gefühlt habe:

„Sie war die Liebe meines Lebens, leider begegnete sie mir erst in dessen Mitte. Ich war desillusioniert von Beziehungen und hatte eben aus diesem Grund eine langjährige Versorgungsgemeinschaft hinter mich gebracht. Ich weiß nicht, ob es überhaupt jemals Liebe gewesen war, aber wenn, dann war sie aus dieser Beziehung gewichen, wie das Blut aus einem geschächteten Schaf. Es war schwer, noch mal neu anzufangen und hätte ich gewusst, was es bedeutet –  wer weiß, ob ich den Mut dazu gehabt hätte. Ich bin kein Held, nicht einer, der Schmerzen heroisch in Kauf nimmt. Ein Mensch, der schwer verletzt wurde, muss sich das nicht sehenden Auges noch einmal antun. Dann kam sie und alles  wurde anders. Abseitigkeit kommt von Innen und Abseitigkeit schweißt zusammen –  und ist ein Garant für Treue. Heute weiß ich, dass unser Glück keinen Haken hatte –  leider zu spät, sonst wäre man entspannter gewesen und hätte rückhaltloser genossen, wenn nicht sogar noch tiefer geliebt. Doch, ich habe geliebt –  zum ersten Mal. Zum letzten Mal. In der Zeit die wir hatten, habe ich niemals diese Neugier nach einer Anderen verspürt, weil ich jeden Tag mit ihr das Neue neu erfahren habe. Und heute habe ich keine Neugier mehr, weil –selbst wenn es an das heranreichte, was ich kennenlernen durfte – nie diese Vertrautheit aufkäme. Bei ihr hatte ich das Gefühl, dass das was wir taten, all ihre Wünsche erfüllte, wie auch meine.“

Ich hatte ihn so oft mit ihm getanzt, den leidenschaftlichen Wörter- und Körpertango im inspirierenden Schlagabtausch. Das hatte uns doch zusammen geführt: die Geschichten,  die Musik, die Bilder, die sichtbaren und die unsichtbaren. Unsere Storys hatten ineinander gegriffen wie Zahnräder, mit denen wir gigantische Maschinen in Gang zu setzen vermochten. Da war eine große Sehnsucht in meinem Herzen, nach Vertrautheit, nach ihm und mir und Ewigkeit. Er war meine Chance, im Anderssein Geborgenheit zu finden.  Unser Credo: Jeder hat seine Abgründe, Hauptsache man trifft sich im selben Kellergewölbe. Wir fanden unser Glück im selben Kellergewölbe, wohl wissend, dass es im Dunkeln besonders laut zerbrechen kann. Was würden wir noch sein, wenn wir uns verlieren würden? So schloss Dirot seinen Text mit diesen Zeilen:

„Das Leben hat einfach keinen Geschmack mehr. Ich habe auch keine Lust, eine Enttäuschung zu erleben, oder andere zu enttäuschen, oder zu schockieren. Leicht, fast unmerklich, bebt der Schnee. Das muss der ICE sein. Ich habe meinen Standort strategisch günstig gewählt. Selbst wenn der Lokführer mich sieht, wird es zu spät sein. […] Erschrocken über diese Gedanken halte ich inne. Ich drehe mich um und stapfe zurück nach Hause. Vielleicht ist ja auch bei ihr der Ärger verflogen.“

Diese Geschichte hat einen Kippschalter, das Leben hat ihn oft nicht. Deshalb weiß ich umso mehr zu schätzen, dass es auch bei uns diesen Kippschalter oft gab, wie bei seinem Unfall. „Ihr Freund lebt“, hatte die Schwester gesagt, bevor seine Not-OP eingeleitet wurde. Schwester Jenny, ich werde nie ihren Namen vergessen, denn sie heißt wie ich. Monströs der Gedanke, dass wir diesen Kippschalter irgendwann nicht mehr auf „Leben“ stellen können und einer von uns vor dem anderen gehen muss. Trostvoll die Vision, dass gerade die Geschichten, die vom Leben und vom Lieben gezeichnet sind, in unserer Fantasie, in unseren Gedanken und Gefühlen unsterblich sind und somit auch unsere Verbundenheit. Der einzige Tod, den ich jedoch bis dahin in unserer Beziehung leben möchte, ist der „petite mort“!

Diese Kolumne erschien in der Maiausgabe 2024 der „DRUNTER + DRÜBER“, zum Thema „Sex und Tod“. Das aktuelle Magazin für Endlichkeitskultur gibt’s hier als Print- und Digitalfassung (nicht für Screen Reader geeignet): https://gluecklicher-montag-shop.de/product-category/drunterdrueber

Auf dem Bild sind zwei Personen zu sehen, eine Frau und ein Mann. Die Frau trägt ein schwarzes Kleid mit roten Herzmotiven, eine rote Baskenmütze und eine rote herzförmige Sonnenbrille. Sie hält eine CD in der Hand, auf der "Liebe mit Laufmaschen" steht. Der Mann trägt ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Schirmmütze. Er hält ein Buch mit dem Titel "Liebe mit Laufmaschen" in der Hand. Beide stehen vor einer hellen Wand. (Bildbeschreibung von Be My AI)
Jennifer Sonntag mit ihrem Partner Dirk Rotsch; Foto: privat