Von der Skyline zum Grabstein und zurück

Ein Rückblick auf das Wave-Gotik-Treffen

Jennifer Sonntag steht in einem langen schwarz-rotem Kleid im Grünen. Die Arme hält sie leicht angewinkelt und offen- so, als würde sie uns als Gäste willkommen heißen. Dadurch fallen die weit ausgestellten roten Ärmel elegant herab.
Jennifer Sonntag mit mittelalterlichem Kleid; Foto: privat

Ich hake mich bei meinem Buch- und Lebenspartner Dirot unter und betrete diese Zeilen. Mit der rechten Hand führe ich mein Zauberzepter, das von einem funkelnden Kristall gekrönt ist. Wir treffen uns in Halle auf dem Bahnhof. Einmal im Jahr verwandelt sich die S5, welche Pendelnde, Studierende und Konsumwillige von der grauen Diva Sachsen-Anhalts nach Klein-Paris befördert, in meinen verwunschenen WGT-Express. Am Leipziger Hauptbahnhof angekommen, dominiert die Farbe schwarz, schildert mir Dirot in dunkelbunten Worten, denn ich kann es nicht sehen. Er beschreibt mir die erste Fotoausstellung und ich höre eine kleine Band, die das Thema der Bilder aufgreift. Sogar Bäcker und andere Gewerbetreibende haben sich auf die „Schwarzkittel“ eingestellt: Törtchen in Sargform und bei einem Burger-Anbieter prangt ein gelbes „M“ auf den schwarzen Werbeluftballons.

Wir fahren eine Station weiter. Am Wilhelm–Leuschner-Platz kann man das WGT förmlich riechen. Gleich in der Nähe ist die Moritzbastei. Wie oft habe ich in der Veranstaltungstonne unvergesslichen Konzerten beigewohnt. Dirot hat hier häufig mit „Lament“ gespielt, auch im Rahmen des WGTs. Er sagt heute scherzhaft, das habe sich damals wie ein zweites Wohnzimmer angefühlt. Ich war Fan der Band und so lernten wir uns kennen. Auf dem „Dach“ der Moritzbastei ist ein Mittelaltermarkt aufgebaut, den man auch ohne Bändchen besuchen kann. In der Luft schwebt der Duft von Räucherstäbchen und Met. Ich höre das Klirren von Schwertern der Ritter-Schaukämpfe. Meine Fingerspitzen erkunden die Schmuckauslagen der Stände. Ich lasse innere Bilder entstehen. Auf dem Vorplatz zur Moritzbastei lausche ich dem Rascheln der aufwändigen Kleider, dem Rasseln von metallischen Accessoires und polyglottem Stimmgewirr. Meine Sinne berauschen sich an dieser Atmosphäre und helfen mir dabei, mein Kopfkino zu bespielen. Ich möchte ganz viel wissen, ganz viel fragen, bin mir bewusst darüber, dass Dirot all die optischen Eindrücke für mich niemals allesamt in Worte wird fassen können. Aber ich bewahre jedes Wortbild, was er mir schenkt auf wie einen Schatz und präge mir wertvolle Sinneseindrücke über Jahre ein.

Wir gehen weiter durch die grüne Lenne-Anlage und über den vielbefahrenen Roßplatz. Dann passieren wir einen der Durchgänge des großen, leicht gebogenen Gebäudekomplexes, der das Ringcafe  beherbergt. Schließlich geraten wir in den Sog eines fast schon idyllischen Häuserensembles um eine parkähnliche Grünfläche. Bis 2022 war es  schöne  Pfingsttradition, dem VEID e.V. (Bundesverband für verwaiste Eltern und trauernde Geschwister) einen Besuch abzustatten. Unter der Schirmherrschaft von Luci van Org gaben sich dort Szenegrößen ein Stelldichein und unterstützten mit ihren Beiträgen die  Arbeit des Vereins. Musiker*innen, Literat*innen und bildende Künstler*innen animierten die Gäste  nach ihren Darbietungen zu Spenden oder stellten Werke zur Versteigerung bereit. In den Räumen des VEID reichten die Mitarbeitenden einen liebevoll hergerichteten Imbiss. Lucis kleines Festival war viele Jahre unser emotionaler Höhepunkt. Hier haben wir gelernt, dass Trauern und Tanzen sich nicht widersprechen müssen. Umso bedauerlicher finden wir, dass Teile des neuen Bundesvorstandes des VEID seit 2023 keine Kooperation mehr mit dem WGT wünschen.

 Apropos  Abschiede: Schräg gegenüber gab es vor ein paar Jahren noch die „Absintherie Sixtina“, mit lauschigen Konzerten, Lesungen und Menschen aus aller Herren Länder. Leider musste auch der zweite Standort der Gentrifizierung weichen. Wir erlebten dort im Dezember 2019 noch ein Konzert der Band „Schneewittchen“, die mir auch auf dem WGT mehrfach begegnet war.

Wir lösen uns aus der fast feierlichen Stimmung und kehren zurück in den Untergrund. Unser WGT-Express startet unterm Leuschner-Platz. Er trägt uns Richtung Süden. Vorbei am MDR-Gebäude, in dem ich viele Jahre meine „SonntagsFragen“ moderierte. Ich hatte es nicht zuletzt meinem Gothic-Look zu verdanken, dass mich das Fernsehen damals entdeckte. Das erste Portrait drehten wir auf dem WGT. Kurz darauf wurde ich gefragt, ob ich mir vorstellen könne, prominente Gäste aus Sicht einer blinden Frau zu interviewen. Insgesamt habe ich dann 14 Jahre für den MDR gearbeitet und verschiedene Formate innerhalb der Sendung „Selbstbestimmt!“ umgesetzt. Von der Sozialpädagogin qualifizierte ich mich zur Journalistin weiter. Zu meinen über 90 Gästen gehörten auch Gesichter aus der Szene, wie Luci van Org, Mark Benecke, Fabian Kahl, der seinerzeit als Bares-für-Rares-Händler durch seinen extravaganten Goth-Style auffiel und Schwarwel, auf den wir später noch treffen werden. Während unserer Talks konnten meine Interviewten durch die große Glasfront des MDR-Hochhauses die Leipziger Skyline und das Völkerschlachtdenkmal sehen.

An diesem schaurig schönen Monument fahren wir nun auch vorbei. Ich erinnere mich gern daran, dass ich das Denkmal erstmals erklomm, als ich schon auf meinen Tastsinn angewiesen war. Der Gag sei erlaubt: Für den Ausblick hatte ich es nicht getan. Aber ich konnte mir einen Eindruck von der einschüchternden Erhabenheit des Völkis verschaffen. Sicher ist seine Geschichte zwiespältig und der Grund der Errichtung war ein trauriger. Dirot nennt es den Richard Wagner unter den Denkmälern. Für das WGT war der charismatische Ort bereits Kulisse  für unvergessliche Konzerterlebnisse.

Nahe am Völkerschlachtdenkmal erstreckt sich der Südfriedhof. Dort hatte ich vor vielen Jahren mein erstes Fotoshooting mit den Pfingstgeflüster. Es entstanden auch Bilder im Säulengang der Trauerhalle. Damals hätte ich nicht geahnt, dass dieser Ort nochmal eine viel gravierendere Rolle in meinem Leben spielen würde. Ich hatte später mit Dirot dort eine Lesung Christian von Asters besucht, letztes Jahr jedoch hielt Christian in diesen Gefilden die Trauerrede für unseren geschätzten Verleger und Freund Oliver Baglieri. Bei Olli haben wir unsere ersten literarischen Kinder veröffentlicht. Ich brachte mein Coming of Age-Buch „Märchenland im Müll“ über die hallesche Punk- und Junkie-Szene, aber auch das Sachbuch „Verführung zu einem Blind Date“ und die Anthologie „Hinter Aphrodites Augen“ heraus. Dirot publizierte seine Novelle „Michel“ und beteiligte sich an mehreren Buchprojekten. Olli mit seinem gewinnenden und manchmal schelmischen Lächeln war vor allem ein Ermutiger und dabei hätte er gerade in den letzten Monaten selber Zuspruch gebraucht. Wir finden es tröstlich, dass er auf dem Südfriedhof seine letzte Ruhe fand, zwischen viel Grün, zahlreichen bekannten Personen der Stadt und frechen Eichhörnchen. Der Bestatter bat die Trauergemeinschaft um Verständnis, es könne sein, dass die Blumen am nächsten Tag aufgefuttert sein würden, da Rehe sie sich in der Nacht schmecken ließen. Das wäre Ollis Humor gewesen. Und unser Humor ist es, dass unser Freund sich genau am Samstag des WGTs 2022 auf seine letzte Reise begab. Der Tod des Szeneverlegers hatte viele der alten Schreiberlinge wieder zusammengeführt. Michael Schweßinger startete ein Crowdfunding, damit Olli würdig bestattet werden konnte. Hauke von Grimm organisierte mit Verlagsfreunden einen Oliver-Baglieri-Ehrenabend. Beide Autoren waren in herausfordernden Zeiten mit in die Verlagsarbeit eingestiegen, bevor sie gemeinsam die Pforten schlossen. Ollis Büchlein „Als die Gruftis Buttons trugen“ bleibt eine Metapher in unserem Regal. Viele erinnern sich noch an seinen Laden „Your Paperzone“, die subversive Keimzelle der „Edition PaperOne“ am Werk 2. In diese Richtung fahren wir nun auch weiter.

Im Stadtteil Connewitz steigen wir aus. Um zum Werk 2 zu gelangen, müssen wir noch drei Stationen mit der Straßenbahn fahren, bis zum Connewitzer Kreuz. Für „Schwarzfahrer“ ist zum WGT sogar eine eigene Linie auf den Schienen. Wer auf dem Weg zur „Gothic-Pogo-Party“ ist, macht gern einen Abstecher ins Atelier „Katakombe Connewitz“, welches sich direkt auf dem Gelände des Werks befindet. Es geht einige Stufen in einen nebligen Keller – düster, morbid und urgemütlich – in dem die ab- und tiefgründige Kunst von Dani(Danjela Diamond) und Andy (Incestum) ausgestellt wird. Andy aka Incestum stand übrigens damals auch Modell für Ollis „PaperOne“-Logo. Er war der lesende Punk unter der Laterne. Ich bin dankbar, dass die Kunst im Keller berührt werden darf. Egal ob rostiges Sägeblatt oder fragiles Schneckenhaus, meine Fingerspitzen erkunden fasziniert die Widersprüche und die Sinnbilder in den zauberhaften und verstörenden Arrangements der kleinen Absonderswelt. Aus Materialien von Papier bis Stahl spiegeln die Werke die albtraumhaften Ergebnisse menschlichen Tuns. Dabei wird das Monströse gern mit einer Prise Humor oder einem Spritzer nonchalantem Zynismus abgeschmeckt. Außerhalb des WGTs öffnen die Künstler*innen freitags ihr Atelier für Interessierte. Meine heimische Wohnzimmerwand ziert inzwischen ein massives und für mich sehr symbolisches Tastbild von Incestum, was wir „Augenschein“ nennen.  Den Wimpernkranz des zentralen Augenmotivs schmückt eine massive Eisenkette aus dem Werk 2, die der Künstler im Bild verbaute. Ich verbinde mit der Location großartige Konzerte von befreundeten Bands, für die Dirot seinerzeit auf der Bühne stand, so auch bei „Raum41“, damals noch im Rahmen des offiziellen WGT-Programms. Selbst durfte ich 2019 an diesem Ort als Botschafterin für „Die Stadt der Sterblichen“, ein Festival, was von der Funus-Stiftung ausgerichtet wird, in der „Talkshow des Todes“ Rede und Antwort zu den Themen Angst, Depression und Suizidprävention, aber auch zu Tod, Trost und Trauer stehen. Markus Kavka, dessen Arbeit ich als Musik-Fan schon seit meiner frühen Jugend verfolge,  moderierte die Runde,in die neben Jupiter-Jones-Sänger Nicholas Müller auch der Sportjournalist Ronald Reng und der Bestatter Eric Wrede eingeladen waren. Das Werk 2 ist einer der kreativen Schmelztiegel mit dem Leipzig so reich gesegnet ist. So ist es, rohes Mauerwerk und koexistierendes Grün, selbst ein Kunstwerk – gezeichnet vom Leben. Wenn nicht gerade Konzerte oder Tanzlustbarkeiten in den heiligen Hallen stattfinden, verströmen die Gebäude, die den schlauchförmigen, grob gepflasterten Hof säumen, jenen Charme, den man nicht künstlich erzeugen kann – mit seinen umgewidmeten Industriegebäuden, die bevölkert werden von bildenden Künstler*innen, Vereinen und den Connewitzer Cammerspielen.

Links neben dem Hofzugang befindet sich die „Agentur Glücklicher Montag“. Schwarwel dürfte vielen durch seine Comics und Karikaturen bekannt sein. Es vergeht keine Woche, in der wir nicht auf eine Zeichnung in einer Zeitung, in einer Fernsehsendung oder auf einer Webseite von ihm stoßen. Aber Sandra Strauß, AGM-Geschäftsführerin, und Schwarwel zeichnen sich auch für den Almanach „Nicht gesellschaftsfähig – Alltag mit psychischen Belastungen“ verantwortlich, an dem ich neben zahlreichen Fachleuten, Betroffenen und Prominenten mitwirken durfte. Da die AGM auch die „Drunter & Drüber“, das Magazin  für Endlichkeitskultur der Funus-Stiftung, redaktionell mitbetreut, kam es auch hier zu einer wunderbaren Zusammenarbeit. Seit letztem Jahr schreibe ich für die DuD meine „Sonntagskolumne“ und meinen „Todcast-Tipp“. Mir ist wichtig, mich auch über das WGT hinaus für Inhalte zu engagieren, vor denen die Gesellschaft gern die Augen verschließt. Die schwarze Szene gibt mir dafür das nötige Empowerment, auch bei meinen eigenen Themen. Als ich selbst mit Krankheit und Verlust konfrontiert wurde, half mir diese Lebensphilosophie dabei, mich weicher für die schweren Themen zu machen und im übertragenen Sinne gesprochen, die Lichtquellen im Dunkeln aufzusuchen.

Wir verlassen das Gelände und könnten den ersten Veranstaltungsort der 30-jährigen Geschichte des WGTs besuchen. Längst ist aus dem damaligen „Eiskeller“ das soziokulturelle Zentrum „Conne Island“ geworden. Noch immer ist es ein Hort für alternative Kultur. Mir blieb nachhaltig in Erinnerung, dass Awareness dort schon eine Rolle spielte, als es der Begriff noch nicht in den Mainstream geschafft hatte, auch wenn es unbequem war. Awareness ist mir auch im Umgang mit behinderten Konzert- und Festivalbesucher*innen ein großes Anliegen. Deshalb bin ich seit diesem Jahr Beraterin bei der Initiative „Barrierefrei feiern“ (IBF). Wir schulen Veranstaltende darin, ihre Events inklusiv mitzudenken. Leider gibt es auch beim WGT noch viele Orte, die für Menschen mit Behinderungen nur eingeschränkt oder gar nicht zugänglich sind. Wir lassen die Wolfgang Heinze Straße mit seinem UT Connewitz – dem ältesten Lichtspielhaus Leipzigs rechts- liegen. Auch in diesem Gebäude stecken Erinnerungen, da ich hier einen TV-Piloten drehen und „Lament“ ihre Live-DVD produzieren durfte. Weiter geht es mit der „Bimmel“, wie der Leipziger seine Straßenbahn nennt, die Bornaische Straße Richtung Markkleeberg zum Epizentrum des WGTs.

Vorher machen wir noch einen Abstecher zum Heidnischen Dorf. Haltestelle Leinestraße steigen wir aus. Wir passieren die Helenenstraße zum Dölitzer Torhaus. Über eine kleine Brücke durch eine Toreinfahrt betreten wir den elusteren Ort. Stände mit allerlei Speis und Trank, Geschmeide, Lederwaren, Gewändern und vielem mehr locken meinen Erkundungsdrang.  In den Badezuber lege ich mich nicht und ich lasse mich auch nicht als Jungfrau versteigern. Die grüne Idylle lädt dazu ein, sich auf den raren Bänken niederzulassen oder sich ins Gras zu setzen, um mit guten Freund*innen und neuen Bekannten eine Plauderei zu halten oder der Musik zu lauschen, die von der Bühne erschallt.

Vom Heidnischen Dorf aus können wir das Agra-Areal fußläufig erreichen. Rund um das ehemalige Messegelände, auf der sogenannte Leistungsschauen der DDR-Landwirtschaft stattfanden, ist die Dichte „kuntergraudunkelbunter“ Menschen am höchsten. Betreten wir das weitläufige Areal durch das Portal, stoßen wir auf einen breiten Weg, der zum Catwalk wird und den Königinnen, Hexen und schwarzen Feen ihre Bühne bietet(männliche Pendants sind hier ausdrücklich mitgemeint). Der Rasenstreifen, der diesen Weg säumt, ist ebenfalls bevölkert von Gestalten jedweder Schwarz-Couleur. Früher war die Halle mit den vielen Ständen mein erster Anlaufpunkt, 666 Verführungen. Meine Finger und Ohren waren Augen und oft habe ich reiche Beute gemacht, da ich hier ausgiebig ertasten konnte, was für mich in Online-Shops und Katalogen unsichtbar blieb. Manches Teil begleitete mich einen wundervollen Tag lang und wurde dann in meiner textilen Schatzkammer für besondere Momente aufbewahrt, andere Stücke trage ich alltäglich an mir. Aber keines will ich missen, sind diese Errungenschaften doch Eselsbrücken für Erlebtes, ich nehme sie immer wieder heraus, führe sie aus  und wenn ich sie berühre, fühle ich mich jung und alt zugleich.

Jennifer Sonntag in Zusammenarbeit mit Dirk „Dirot“ Rotzsch

Dieser Beitrag erschien in der Jubiläumsausgabe des „Pfingstgeflüsters“. Die Printausgabe kann hier bestellt werden: externer Link